Als Samuel sprechen lernte, fragten sich seine Eltern: Darf er seinen Vater überhaupt Papa nennen? Oder müssen sie ihm beibringen, „Johannes” zu sagen? Jedes „Papa“, das Samuel seinem Vater Johannes Huber auf dem Spielplatz zurief, war ein Risiko: Huber war Priester. Wäre seine Vaterschaft öffentlich geworden, hätte er seinen Job verlieren können.
Eigentlich heißt die Familie Huber anders, doch sie will nicht, dass im Internet jeder ihre Geschichte lesen kann. Denn das Thema ist heikel: Dass es Priesterkinder gibt, kann die katholische Kirche nicht leugnen – offen darüber reden will sie trotzdem nicht gerne. Erst 2019 wurde bekannt, dass es eine interne Leitlinie des Vatikans zum Umgang mit Priestern, die Väter geworden sind, gibt. Demnach soll das Wohl des Kindes an erster Stelle stehen.
„Dazu führen wir keine Statistik“
Fragt man die siebenundzwanzig Diözesen der katholischen Kirche in Deutschland nach Zahlen über Priester, die Väter wurden oder wegen dem Zölibat ihr Amt niedergelegt haben, kommt zehn Mal der Hinweis: „Dazu führen wir keine Statistik.“ Ein Drittel der Diözesen gibt keine Informationen heraus oder antwortet nicht, lediglich zwei bestätigen, dass in den letzten zehn Jahren Priester ihr Amt aufgaben, weil sie Vater wurden. Offizielle Zahlen zum Thema Priesterkinder existieren nicht, der Wahrheit kommt man nur über Schätzungen näher: David Weber, selbst Sohn eines Priesters, gründete vor elf Jahren die Initiative Menschenrechte für Priesterkinder, die sich gegen die Diskriminierung von Kindern von Priestern einsetzt. Er geht von mehreren Tausend Priesterkindern in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus.
Der Zölibat meint in der katholischen Kirche das Versprechen eines keuschen, enthaltsamen und damit ehelosen Lebens. Bricht ein Priester dieses Versprechen und beginnt eine Beziehung – also das, was die Kirche ein eheähnliches Verhältnis nennt – steht das unter Strafe und der Priester kann suspendiert werden. Dann darf er seinen Dienst nicht mehr ausüben. Wer also weiter als Priester arbeiten will, beendet die Partnerschaft. Oder er führt sie heimlich fort. Oft im ständigen Zwiespalt zwischen der Beziehung und dem, was er sich, Gott und der katholischen Kirche versprochen hat. Kommt ein Kind hinzu, steigt der Druck auf den Priester.
In der Regel schließen die Richtlinien des Vatikans aus, dass ein Priestervater weiter im Dienst bleiben kann, erklärt Martin Rehak. Er ist Professor für Kirchenrecht in Würzburg. „Die Regelung wird damit begründet, dass das Kindeswohl im Mittelpunkt stehen und der Vater Zeit haben soll, sich seinem Kind zu widmen”, so Rehak. Das sei laut Vatikan nicht möglich, wenn der Priester im Amt bleibt. Trotzdem gebe es Ausnahmen: „Zum einen, wenn der Fall erst publik wird, wenn das Kind des Priesters schon erwachsen ist. Zum anderen, wenn das Kind des Priesters in einer intakten Familie aufwachsen kann, sprich: jemand anderes als der Priester die Vaterrolle erfüllen kann”, so Martin Rehak.
Johannes Huber kann heute offen über seinen Weg sprechen. Er hat lange dafür gebraucht, die Schwangerschaft seiner Freundin Sabine liegt inzwischen sechs Jahre zurück. Huber wählt seine Worte sachlich, so als wolle er Distanz zu den Emotionen schaffen, die ihn damals belasteten. Mit Sabines Schwangerschaft brach für ihn ein Lebensentwurf zusammen. Trotzdem blieb er Priester. Er konnte nicht von Beruf und Berufung lassen. Die Seelsorge habe ihn mit Sinn erfüllt. „Gegen das Priesteramt hatte ich damals keine Chance“, sagt Sabine, während Samuel auf ihrem Schoß wippt und das letzte Stück Himmel in ein Puzzle drückt.
Die katholische Kirche steht vor einem Dilemma
Auch die katholische Kirche ist in der Zwickmühle: Sie hat ein Nachwuchsproblem, die Zahl der Priesterkandidaten ist seit Jahren rückläufig. 2019 wurden in ganz Deutschland nur 55 Weltpriester geweiht, zehn Jahre zuvor waren es laut Angaben der deutschen Bischofskonferenz noch knapp hundert. Kann es sich die katholische Kirche also leisten, ihre gut ausgebildeten Priester zu verlieren? Vielleicht antworten deswegen drei Diözesen auf Nachfrage, dass sie es den Priestern, die Väter geworden sind, selbst überlassen, ob sie im Amt bleiben oder nicht – betonen dabei aber, dass sie den Priester auf seine Pflicht hinweisen, für seine Familie Verantwortung zu übernehmen.
Johannes Hubers Diözese wusste von der Vaterschaft, wollte ihn aber nicht verlieren. Er durfte sein Amt behalten, sollte nur Auskunft geben, wie viele Menschen von der heimlichen Beziehung wussten. Außerdem wurde er gefragt, ob das Kind finanziell versorgt sei. Und ob er mit Sabine zusammenleben wolle. Auch nach sechs Jahren heimlicher Beziehung wusste er keine Antwort. Zwar glaubte er, Sabine zu lieben, aber er hatte versprochen, sich in den Dienst Gottes zu stellen – mit allem was dazu gehört.
Der Pflichtzölibat ist auch innerhalb der katholischen Kirche umstritten. Im Oktober 2019 hatte die Amazonas-Synode weltweite Aufmerksamkeit erregt. Im Abschlusspapier hatten die teilnehmenden Bischöfe Papst Franziskus aufgefordert, angesichts des hohen Priestermangels in bestimmten Regionen Amazoniens auch verheiratete Diakone zur Priesterweihe zuzulassen. Franziskus ließ die Anregung unbeantwortet, schloss eine Lockerung aber auch nicht aus. In Deutschland gibt es innerhalb des Gesprächsformats Synodaler Weg ein Forum namens „Priesterliche Existenz heute“. Stephan Buttgereit ist einer der beiden Leiter dieses Forums. Er wünscht sich eine Zukunft, in der Priester künftig beides können: in Beziehungen leben und gleichzeitig ihr Amt ausüben. „Ich wünsche mir, dass Kinder sagen können: „Mein Papa ist Priester in der katholischen Kirche“, sagt Buttgereit.
Nach der Amtsaufgabe wird es für die Priester oft nicht einfacher
Dass es nicht einfacher werden muss, wenn der Vater sein Priesteramt für die Familie aufgibt, hat Michaela Wicke erlebt: Ihr Vater war katholischer Priester und entschied sich in den 80er Jahren für die Familie, kurz nachdem sie geboren wurde. „Mein Vater hat uns zwar geliebt – aber er war immer in einem Kampf, in einem Zwiespalt.“ Dass Wicke ein Priesterkind ist, wusste sie zwar – aber über alles andere wurde zu Hause geschwiegen. Ihr Vater war nicht zufrieden mit seiner neuen Arbeit, verschwand von Zeit zu Zeit von zu Hause, um zu sich zu kommen. Wenn er da war, war er immer öfter betrunken. Nur dann redete er über die Vergangenheit: „Er hat immer gesagt, wisst ihr eigentlich, wie das war für mich, als ich aussteigen musste“, sagt Wicke.
Wenn Michaela als Kind erzählte, dass sie die Tochter eines Priesters war, schüttelten manche mit dem Kopf und sagen „Schande“. Michaela Wicke schämte sich, hörte auf zu sagen, was ihr Vater war. Sie sagt, sie schluckte in dieser Zeit viel herunter, nahm sich selbst als etwas Schlechtes wahr. Das sei typisch, weiß auch der Psychologe Vincent Doyle von Coping International, einer Selbsthilfegruppe für Kinder katholischer Priester: „Das Schweigen wird für Priesterkinder leider zur Norm. Sie sind der Überzeugung, dass ihre Situation sich verschlimmern würde, wenn sie ihre Stimme erheben”, erklärt er in schnellem irischen Englisch per Videotelefonat. Wicke sagt, dass sie als Kind nie das Gefühl hatte, eine richtige Familie zu haben. Als sie klein war, flehte sie ihren Vater an, wieder Priester zu sein – damit sie ihn wieder glücklich sehen kann. Er wollte nicht, sagte, er muss für die Familie da sein. „Der Zölibat ist ein menschenunwürdiges Gesetz“, sagt Wicke .
Der Theologe und Priester Michael Menke-Peitzmeyer bildet Männer zu Priestern aus: Er ist der Leiter des Priesterseminars und der Priesterfortbildung im Erzbistum Paderborn. Obwohl ein Teil seiner Studenten mitunter auch wegen des Zölibats die Ausbildung zum Priester abgebrochen hat, macht er sich für die ehelose Lebensform stark: unter anderem, weil Jesus und ein Teil seiner Jünger auch so gelebt hätten und weil sich der unverheiratete Priester freier und damit unabhängiger, das heißt ohne familiäre Verpflichtungen und andere Rücksichtnahme, seinem Dienst an Gott und den Menschen widmen kann. Aber selbst Menke-Peitzmeyer verteidigt den Zölibat nicht uneingeschränkt: Er kann sich durchaus vorstellen, dass unter bestimmten Bedingungen – etwa bei akutem Priestermangel – auch verheiratete Männer geweiht werden können: Denn die Sicherstellung der Seelsorge und anderer kirchlicher Dienste vor Ort habe in jedem Fall Vorfahrt.
Historische Entwicklung des Zölibats
Aus der Bibel leitet sich nach Ansicht von Kirchenhistoriker*innen keine klare Pflicht zum Zölibat ab. So wird im Neuen Testament lediglich auf den Wert der Ehelosigkeit „um des Himmelreichs willen” hingewiesen. Bis ins 4. Jahrhundert nach Christus waren Amtsträger laut Kirchenhistoriker Hubert Wolf „ganz selbstverständlich verheiratet und hatten Kinder“. Danach habe sich, beeinflusst von vor- und außerchristlichen Einflüssen, die Vorstellung durchgesetzt, dass die Ehe und der Dienst am Altar nicht vereinbar seien.
Als Kirchengesetz wurde der Zölibat für christliche Priester erstmals 1139 im zweiten Lateran-Konzil eingeführt. Bestehende Ehen von Geistlichen wurden für ungültig erklärt. Damals waren die Gründe vor allem weltlicher Natur, sagt Wolf: Die Kirchengüter sollten nicht von verheirateten Priestern an ihre Kinder vererbt werden. Moralisch aufgeladen wurde der Zölibat laut Wolf aber erst in Abgrenzung zu Reformation und Aufklärung. Es habe sich die Vorstellung eines „engelsgleichen Priesters” entwickelt und Kinder von Priestern seien zur Ausnahme geworden.
Der Zölibat, so Wolf, sei für die katholische Westkirche erst 1917 vorgeschrieben worden, im Codex Iuris Canonici. Darin wird die Weihe zum Ehehindernis und die Ehe zum Weihehindernis erklärt. Trotzdem ist umstritten, ob der Zölibat nach der Lehre der katholischen Kirche zum Wesen des Priestertums gehört. In der katholischen Ostkirche, etwa in der Ukraine, gibt es auch verheiratete Priester.
Johannes Huber verkündet im Gottesdienst, dass er mit seiner Familie leben will
Nachdem Samuel auf die Welt kam, war Sabine alleinerziehend. In den sechs Jahren heimlicher Beziehung bis zu Samuels Geburt nahm sie viel hin, aber für ihr gemeinsames Kind trug sie die alleinige Verantwortung. Einmal rief Sabine Johannes Huber um drei Uhr nachts an, hielt das schreiende Kind ans Telefon: „Damit er auch einmal von Babygeschrei geweckt wird“. Nach über zwei Jahren, in dem Huber seine Vaterschaft in der Öffentlichkeit versteckte und seine Familie nur ab und zu sah, beschloss er, sein Amt niederzulegen. „Zwar habe ich Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit gepredigt“, sagt Huber, „aber gelebt habe ich sie schon lange nicht mehr.“ Er gab seinem Bischof Bescheid und verkündete während seines letzten Gottesdienstes vom Altar aus, dass er mit seiner Familie leben wolle. In den nächsten Tagen kamen immer wieder Gemeindemitglieder ins Pfarrhaus, um ihm alles Gute zu wünschen. Als Johannes zu Sabine und Samuel zog, fragte Samuel: „Ist der Papa jetzt immer hier?“
Viele Priester, die ihr Amt verlassen, stehen wirtschaftlich vor großen Unsicherheiten. Ihre Fähigkeiten lassen sich nicht ohne Weiteres auf andere Jobs übertragen. Auch Johannes Huber war zunächst arbeitslos. Allerdings zahlte die Diözese zur Überbrückung für drei Monate sein ursprüngliches Gehalt weiter, sagt er. Danach habe er für ein halbes Jahr etwa die Hälfte seines Monatsgehalts erhalten. Das durchschnittliche Grundgehalt eines katholischen Pfarrers liegt in Deutschland bei knapp 3.700 Euro netto im Monat. Darüber hinaus zahlte das Bistum die Rentenbeiträge nach. Das deckt sich mit den Angaben seiner ehemaligen Diözese. Auch andere Bistümer sprechen auf Anfrage häufig von Übergangshilfen. Eine einheitliche Vorgehensweise, wie sie mit den ausgeschiedenen Priestern finanziell umgehen, geht allerdings aus den Mails der Diözesen nicht hervor.
Nach sieben Bewerbungen und sechs Absagen findet Johannes Huber schließlich eine Anstellung als Seelsorger in einem Hospiz. Inzwischen haben Sabine und er geheiratet, erstmal nur auf dem Standesamt. Im Mai wurde Johannes Huber von den Rechten und Pflichten eines Priesters entbunden. Wenn Corona vorbei ist, kann er kirchlich heiraten. Samuel jedenfalls nennt ihn schon lange Papa.