Illustration: Franziska Martin

Illustration: Franziska Martin

Wenn das Amt entscheidet, wer Mutter bleiben darf

Eltern mit Behinderung haben Anspruch auf Assistenz im Alltag. Was sie bekommen, ist Bürokratie und Willkür. Was sie verlieren, ist im Extremfall ihr Kind.

Von Caroline Leibküchler und Antonia Mayer

Eine Woche nach der Geburt ihres Sohnes rollt Ramona Böhner in das Büro der Bezirkssozialarbeit in München. Es ist kein freiwilliger Besuch. Ramona Böhner sitzt im Rollstuhl und ihr Traum, Mutter zu werden, hat sich erfüllt. Sie hat in der Schwangerschaft einen Antrag gestellt, bei der Versorgung ihres Sohnes  unterstützt zu werden. 

Ramona Böhner (l.) hatte sich eine Assistentin gewünscht, um ihr bei der Betreuung ihres Sohnes und im Haushalt zu helfen Foto: Antonia Mayer

Doch statt Hilfe vom Bezirk Oberbayern bekommt sie ein Schreiben. Die Frau des Sozialdienstes schiebt es ihr über den Tisch mit den Worten, es falle ihr schwer, aber sie sehe keine andere Möglichkeit, so erzählt Ramona Böhner das später. Sie muss ihren Sohn zu einer Pflegemutter geben. Die Behörden gehen davon aus, dass sie ihr Kind nicht ohne Hilfe zuhause versorgen kann – die Hilfe, die Böhner zuvor vergebens beantragt hatte.

Elternassistentin Marie Camara (hinten) unterstützt Ramona Böhner und deren Sohn Foto: Antonia Mayer

Der Fall sorgte im September 2019 bundesweit für Aufsehen und bestätigte den Albtraum vieler behinderter Mütter: die Angst, ihr Kind nach der Geburt weggeben zu müssen. Behinderte Eltern haben einen Anspruch auf Unterstützung durch den Staat, doch stattdessen erleben sie die Behörden als Gegner. Den Antrag auf Hilfe beim Amt zu stellen, ist für viele Betroffene eine große Hürde. Sie fühlen sich ohnmächtig gegenüber den Ämtern und meiden den Kontakt.

Eine Woche nach dem Besuch beim Amt waren Ramona Böhner, ihre Familie, eine Sozialarbeiterin und die Pflegemutter im Krankenhaus. Ramona Böhner nahm ihren Sohn, ein Frühchen, aus dem Bett und hielt ihn im Arm, als die Pflegemutter fragte, ob sie ihn nehmen dürfe, so erzählt sie es. Ihre Mutter fragte noch, ob ihr Enkel denn an Weihnachten heim kommen könne. Ramona Böhner kehrte an dem Tag alleine in ihre Wohnung zurück – vor ihr ein leeres Kinderbett und viele Glückwunsch-Karten.

Lediglich ein Kontoauszug hatte ihr für den Antrag auf Elternassistenz gefehlt. So heißt die Hilfe für Menschen mit Körper- und Sinnesbehinderung sowie chronisch Kranke. Für die Behörden war es offenbar wichtiger, dass alle Formalitäten geklärt sind, als dass das Kind bei seiner Mutter bleibt.

Dabei geht es bei der Elternassistenz nur um einfache Unterstützung im Alltag: Eine blinde Mutter will die Hausaufgaben der Kinder kontrolliert haben; ein Vater im Rollstuhl wünscht sich jemanden, der sein Kind unterm Klettergerüst sichert.

Eltern mit Behinderung haben gesetzlichen Anspruch auf Hilfe

Für solche Fälle wurde 2017 das Bundesteilhabegesetz (BTHG) eingeführt. Ein großer Fortschritt für viele Eltern mit Behinderung, hieß es damals, denn erstmals wurde Elternassistenz als Leistung konkret in einem Gesetz benannt. Aber: „Ein Gesetz ist immer nur so gut, wie es in der Praxis umgesetzt wird“, erklärt die Kölner Professorin Julia Zinsmeister. Die Sozialrechtlerin berät  betroffene Eltern. In der Praxis zeigt sich: Das Gesetz ist gut gemeint, aber schlecht umgesetzt.

Betroffene scheitern häufig bereits daran, die richtige Behörde zu finden. So wie Lara Huber aus Baden-Württemberg: „Der ganze Prozess war furchtbar. Ich befand mich in einer Lage, in der ich Hilfe brauchte, aber keine der Stellen kannte Elternassistenz und ich wurde immer wieder hin- und hergeschickt.“ 

„Ein Gesetz ist immer nur so gut, wie es in der Praxis umgesetzt wird”

Julia Zinsmeister, Professorin und Sozialrechtlerin

Als Lara Huber schließlich herausfand, dass sie Anspruch auf Elternassistenz hat und das zuständige Sozialamt kontaktierte, wusste die Behörde nicht, wovon sie spricht.

Huber sitzt im Rollstuhl. Als sich ihr körperlicher Zustand nach einer Operation deutlich verschlechterte, brauchte sie Hilfe beim Wickeln, Baden und Kochen. Sechs Monate lang war die Krankenkasse zuständig, sie finanzierte ihr eine Haushaltshilfe. Danach musste sie sich woanders Hilfe suchen.

Die Krankenkasse verwies ans Jugendamt. Das erklärte sich für nicht zuständig und verwies zurück an die Kasse. Für Huber begannen kräftezehrende Wochen der Suche nach Hilfe. Als sie  schließlich herausfand, dass sie Anspruch auf Elternassistenz hat und das zuständige Sozialamt kontaktierte, wusste die Behörde nicht, wovon sie spricht. „Ich musste den Sozialarbeiter*innen erklären, worum es bei dem Antrag geht und wie sie das bearbeiten müssen und habe sie mit dem Gesetzestext konfrontiert. Das fand ich für die Behörde peinlich“, so erinnert sie sich heute  an Anfang 2018. 

Das Sozialministerium des Landes Baden-Württemberg stellt auf Anfrage klar, dass das zuständige Amt die Unterstützung nicht nur gewähren, sondern die Antragsteller auch beraten und unterstützen muss. Konkrete Probleme seien dem Ministerium nicht bekannt.

Lara Huber jedenfalls hat bis heute Angst, das Amt gegen sich aufzubringen. Ihren echten Namen will sie deshalb nicht gedruckt sehen.

Deutschland hat sich verpflichtet, Menschen mit Behinderung zu unterstützen

Die UN-Behindertenrechtskonvention schreibt das Menschenrecht auf Elternschaft von Behinderten fest. Deutschland hat diese Norm 2007 unterschrieben. Die Regierung und die Bundesländer haben sich damit verpflichtet, jede Benachteiligung von Eltern mit Behinderung abzubauen und die Betroffenen zu unterstützen. Die Realität sieht aber anders aus.

Dr. Marion Michel, Soziologin und Vorsitzende des Vereins Leben mit Handicaps Foto: privat

„Das kann dazu verleiten, eine Behinderung fälschlich mit einer Gefährdung des Kindes gleichzusetzen”

Julia Zinsmeister, Professorin und Sozialrechtlerin

Das Problem beginnt schon damit, dass das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) keine Daten zu Eltern mit Behinderung und zu den Anträgen kennt. Eine Sprecherin räumt „Probleme aus der Verwaltungspraxis“ ein und schließt nicht aus, dass das Gesetz verbessert wird.

Eltern kämpfen gegen Stigmatisierung von Behörden

Unwissenheit und Ignoranz sieht Marion Michel als die größten Probleme der Behörden: „Es muss wirklich sehr viel mehr Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit in Form von Fortbildungen geleistet werden.”

Die promovierte Soziologin hat im Auftrag der Bundesregierung 2017 in einer Studie die Situation behinderter Eltern untersucht. Sie möchte, dass Mitarbeiter*innen Menschen mit Behinderung vorurteilsfrei begegnen und ihnen nicht kategorisch die Fähigkeit absprechen, eine gute Mutter zu sein.

„Das kann dazu verleiten, eine Behinderung fälschlich mit einer Gefährdung des Kindes gleichzusetzen”

Julia Zinsmeister, Professorin und Sozialrechtlerin

Auch Rechtsexpertin Zinsmeister hält die Angst der Eltern vor dem Jugendamt für begründet. Mitarbeitende würden dazu neigen, bei behinderten Menschen vor allem nach Defiziten zu suchen, statt die Kompetenzen der Eltern in den Blick zu nehmen. “Das kann dazu verleiten, eine Behinderung fälschlich mit einer Gefährdung des Kindes gleichzusetzen.” 

Was könnte eigentlich für das Jugendamt dagegen sprechen, dass Kinder bei ihren Eltern mit Behinderung groß werden? „Es spricht nichts dagegen, was nicht auch bei Kindern anderer Eltern dagegen spricht“, sagt Zinsmeister. Probleme könnten nur dann entstehen, wenn das Kind unterversorgt wird. Zum Beispiel, wenn die Mutter Unterstützung braucht, aber keine bekommt.

Behörden greifen langsam das Problem auf 

Langsam denken auch Behördenmitarbeiter*innen um. Sechs Wochen nach der Geburt kam Ramona Böhners Sohn nach Hause, der Bezirk Oberbayern zahlte eine Assistentin als Hilfe. Eine Sprecherin sagt, man bedauere den Fall und wolle die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt verbessern.

In Bayern soll eine Liste den Behördenmitarbeiter*innen Anhaltspunkte geben, eine Kindeswohlgefährdung zu entdecken. Auf dieser Liste stehen aggressives Verhalten in der Familie, schädigende Erziehung und suchtkranke Eltern. Auf der Liste steht auch die Behinderung oder chronische Krankheit eines Elternteils – bis heute.