Verzierte Holzhäuser, eine Gondelbahn zu einem türkisblauen Bergsee, Hänge mit weidenden Kühen. Kandersteg ist ein idyllisches Bergdorf im Schweizer Kanton Bern. Doch anderthalb Kilometer über den Dächern des Dorfes taut in einem Hang das Eis, das früher selbst im Sommer gefroren blieb. Sobald der Hang rutscht, löst er eine Fels- und Schlammlawine aus, die genau in Richtung Kandersteg stürzt. Wann er runterkommt, weiß man nicht, es könnte morgen passieren oder in einem Jahr. Wie viel von dem Hang auf einmal rutscht, können die Geolog*innen auch nicht sagen. Dass er runterkommt, und zwar bald, das weiß man. Und dass sich das Dorf vor den Massen schützen muss.
Nun hätten die Kandersteger*innen sich streiten können, in Schockstarre verfallen, wegziehen. Stattdessen hat das Dorf schneller gehandelt als viele andere Gemeinden Deutschlands und der Schweiz und mit dem Bau von Schutzdämmen begonnen.
Dabei kann so viel schiefgehen. Maßnahmen gegen Naturgefahren können zum Beispiel am Veto der Menschen scheitern. In Uerkheim, einem Dorf im Schweizer Mittelland, haben die Bewohner*innen zweimal gegen Hochwasserschutzmaßnahmen ein Veto eingelegt. Dem größten Hochwasser ihrer Geschichte standen sie 2017 deshalb machtlos entgegen.
Im schweizerischen Bondo begrub eine Schlammlawine acht Menschen beim Wandern, nachdem sich die Gemeinde nicht dazu durchringen konnte, einen Wanderweg zu sperren.
Und in Bern war das letzte starke Hochwasser 2005. Seitdem ist viel Zeit vergangen, die Gefahr fast vergessen und noch immer kein ausreichender Hochwasserschutz in der UNESCO-Altstadt gebaut.
Jede Schweizer Gemeinde ist bedroht
Warum klappt in Kandersteg, woran andere scheitern? Die Einwohner*innen von Kandersteg machen jetzt schon das durch, was auf viele Gemeinden noch zukommt. Weil sich das Klima erhitzt, werden Naturgefahren nicht nur in den Alpen größer. Jede Gemeinde in der Schweiz ist von starken Niederschlägen, Hochwassern, Erdbeben, Schlammlawinen, Felsstürzen oder Rutschungen bedroht. Das schreibt das Schweizer Bundesamt für Umwelt. In Kandersteg bedroht nun ein sogenannter Murgang das Dorf. Das ist eine Lawine aus Geröll, Wasser, Eis und Schlamm. Sie wird angestoßen, weil der Permafrostboden unter dem Berghang durch den Klimawandel auftaut.
Eine Stunde Wanderung vom Dorfkern Kanderstegs entfernt liegt der Oeschinensee, ein beliebter Ort für Tourist*innen aus China und Nahost. Der Weg am Oeschibach entlang nach oben ist der des Murgangs in umgekehrter Richtung. Seitlich stürzen Wasserfälle hinab. Oben angekommen geben die Wolken den Blick frei auf den schmelzenden Hang. 20 Millionen Kubikmeter sind instabil. Das entspricht etwa dem Inhalt von 8000 olympischen Schwimmbecken. Im schlimmsten Fall kommt das alles auf einmal herunter. Das Geröll bleibt am Rand des Sees liegen, das Wasser fließt nicht mehr ab und der Bergsee staut sich auf. Dann bleiben den Einwohner*innen von Kandersteg acht bis zwölf Monate, um zum Beispiel einen Abfluss zu bauen. Schaffen sie das nicht und der Geröllhaufen bricht, würden im schlimmsten Fall große Teile des Dorfes überflutet. Die Folgen wären katastrophal.
Doch die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario sei gering, betont Walter Martig. Der Rentner arbeitet ehrenamtlich für eine Kommission, die in Kandersteg Gewässer pflegt und sich darum kümmert, dass die Menschen im Ort vor ihnen geschützt sind. „Am besten wäre es, es kommen immer wieder kleinere Murgänge herunter.” Das könnten die Dämme verkraften.
Oben am Hang beobachten ein Satellit und Messstationen, wie viele Zentimeter pro Tag sich die Bergflanke bewegt. Unten wird gearbeitet. Bagger schaufeln Kies aus dem Gebirgsbach, Lastwagen schütten ihn als Baumaterial hundert Meter weiter auf. Zwei Dämme links und rechts vom Oeschibach sollen das Dorf schützen. Walter Martig hat sie mitgeplant. Der Bau kostet voraussichtlich fünf Millionen Franken. Teile davon werden von Bund und Kanton subventioniert. Außerdem übernehmen die Hilfe für Berggemeinden und Gebäudeversicherungen einen Anteil der Kosten.
Ein Baggerfahrer am Damm hält kurz an, um zu grüßen. „Wir haben für den Bau der Dämme nur lokale Firmen beauftragt“, sagt Walter Martig. Darin könnte ein Erfolgsgeheimnis von Kandersteg liegen. „Das ist eine Grundsatzfrage. Die Wertschöpfung soll möglichst im Tal bleiben”, bestätigt Urs Weibel. Er ist Gemeinderatspräsident von Kandersteg, so etwas wie ein Bürgermeister. Mario Rebmanns Unternehmen aus dem Nachbardorf Kandergrund hat einen der Aufträge bekommen. „Der Schutz von Kandersteg ist Brot für uns”, sagt er. Die Dämme bremsen die Murgänge und kurbeln die regionale Wirtschaft an.
„Manche sagen, sie finden es gut, dass wir sie so transparent informieren, andere empfinden das schon als Panikmache”
Anita Allenbach, Gemeinde Kandersteg
Als im Herbst 2019 ein Gleitschirmflieger über Kandersteg die Bewegungen am Berghang entdeckte und Expert*innen Murgänge vorhersagten, musste es schnell gehen. Die Bedrohung war plötzlich real. Das hat alles beschleunigt. „Die kantonalen Fachstellen haben aufgrund der sich abzeichnenden Gefährdung Notrecht angewendet. Das heißt, es wird zuerst gebaut und dann bewilligt”, erklärt Urs Weibel. Normalerweise brauche so eine Bewilligung bis zu zwei Jahre. In der Notlage haben alle Ämter innerhalb von Wochen zugestimmt. Die juristischen Rahmenbedingungen geben das her – ein weiterer Grund fürs schnelle Reagieren.
In Kandersteg stehen Menschenleben auf dem Spiel. Auch wenn die Kandersteger*innen nicht genau wissen, was passieren wird: Den schlimmsten Fall will keiner. Vielleicht gab es auch deshalb keinen Protest gegen die Dämme. Zwar seien nicht alle von Anfang an überzeugt gewesen, sagt Walter Martig. „Die Kosten. Diese Schneise im Wald. Da haben sich schon manche Leute gefragt, braucht es das?“ Die Kritiker*innen hätten aber keinen Widerstand organisiert. Eine Alternative zum Bau der Dämme habe es nicht gegeben. „Weil wir etwas machen müssen. Wir sind verantwortlich und dieser Schutz muss gewährleistet werden.” Hier sitzen alle im selben Tal.
Immer ein Kurbelradio parat
In den Briefkästen liegt immer mal wieder Post von der Gemeinde, die über die Gefahr informiert. Gemeinderatspräsident Urs Weibel ist das wichtig: „Wir haben von Anfang an gesagt, wir wollen offen und transparent informieren, wir wollen keine Zahlen vertuschen, wir wollen keine Gefahr vertuschen.” Falls die Alarmsirenen losgehen, sind die Bürger*innen angewiesen, das Schweizer Radio einzuschalten und die behördlichen Anweisungen zu befolgen, so steht es im Infobrief von April 2020. Damit sie das auch bei Stromausfall tun können, sollen die Bewohner*innen Kanderstegs im Haushalt ein Kurbelradio oder ein Radio mit Batteriebetrieb haben.
Auf einer Checkliste steht mit genauen Kalorienangaben, welche Essensvorräte für zehn Tage ausreichen und was in den Rucksack gehört, der jederzeit griffbereit sein sollte. Für den schlimmsten Fall, die Evakuierung. Immer freitags erscheint ein Newsletter auf der Gemeindehomepage. Darin steht detailliert, wie viele Zentimeter der Hang in der letzten Woche gerutscht ist. „Es ist ein schmaler Grat, wie viel man informiert“, sagt Anita Allenbach. Sie arbeitet auf dem Gemeindeamt und verfasst die Informationsschreiben mit. „Manche sagen, sie finden es gut, dass wir sie so transparent informieren, andere empfinden das schon als Panikmache. Besitzer von Ferienwohnungen sagen, dass die Information ihre Gäste verunsichert und vielleicht weniger Gäste buchen.“
Kandersteg hat außerdem noch einen Heimvorteil, was den Umgang mit Gefahren angeht. „Die grundsätzliche Haltung in einem Bergdorf ist halt eine andere als in einem Dorf unten im Mittelland. Wir leben mit kleineren Felsstürzen, wir leben mit Nebel, wir leben mit Lawinen”, erklärt Urs Weibel. „Vor allem die älteren Leute sind gewohnt, dass sich da immer irgendwo irgendwas bewegt.” Angst ist ein schlechter Begleiter. Die Lösung für Kandersteg: eine Mischung aus Transparenz, Zielstrebigkeit, Respekt vor der Bedrohung – und Gelassenheit.