Das Lesezeichen liegt auf Seite 121. Martin E. hält das Buch „Die neue Sexualität der Männer” in den Händen und erinnert sich: An dieser kurzen Stelle fand er vor sieben Jahren den entscheidenden Hinweis, dass auch seine Sexualität völlig okay ist. Ein kurzer Abschnitt in dem Kapitel „Bin ich eigentlich normal?” beschreibt ein Ehepaar, das noch nie Sex hatte und das total in Ordnung findet. Er kratzt sich an der Stirn und streicht durch seine grauen Haare, sodass sie in alle Richtungen abstehen. „Da habe ich mir gedacht, du musst der Sache auf den Grund gehen.“ Heute, mit 58 Jahren, weiß er, dass er zu den Menschen gehört, die kein Verlangen nach Sex haben. Martin E. ist asexuell. Das herauszufinden war ein langer Weg.
Der gesellschaftliche Druck beim Thema Sex ist groß. Pornos, Filme und Bücher wimmeln von unrealistischen Sexszenen. Unzählige Beiträge in Zeitschriften und in den sozialen Medien verraten Tipps und Tricks für noch mehr oder noch besseren Sex. Oft dient die Anzahl der Höhepunkte dabei als Maßstab.
Zwar ist die Toleranz gegenüber unterschiedlichen sexuellen Bedürfnissen und Orientierungen gewachsen. Dass es Menschen gibt, die ganz bewusst keinen Sex wollen, ist aber kaum bekannt. Es mangelt an Akzeptanz. So sehr, dass viele Betroffene sogar berufliche Diskriminierung fürchten – nur, weil sie keinen Sex wollen. Auch Martin E. will deshalb seinen Nachnamen nicht nennen. „Wenn ich auf der Baustelle bin, dann will ich nicht Asexualität erklären müssen.”
„Es ist ein großer Druck da, sexuell zu sein“
Anthony Bogaert, Sexualforscher
„Es ist ein großer Druck da, sexuell zu sein“, sagt der kanadische Sexualwissenschaftler Anthony Bogaert. Er schrieb 2004 einen wissenschaftlichen Artikel, der mit zur ersten großen öffentlichen Auseinandersetzung mit Asexualität führte. Darin verwies er auf eine britische Umfrage, bei der ein Prozent der Befragten angaben, noch nie sexuelle Anziehung verspürt zu haben. „Es dämmerte mir, dass diese Personen asexuell sind, da sie nicht in die drei traditionellen Formen Hetero-, Homo- und Bisexualität passen.”
Bogaert beschreibt Asexualität als Spektrum, denn es gebe unterschiedliche Ausprägungen. Manche asexuelle Menschen küssen zum Beispiel gerne, andere wollen gar keine körperliche Nähe. Der Anteil Asexueller könnte deshalb auch größer als ein Prozent sein.
Der Sexualforscher geht davon aus, dass Asexualität zum Teil von biologischen Faktoren vorbestimmt wird. Damit unterscheidet sie sich vom freiwilligen Verzicht auf Sex beim Zölibat und dem Verlust sexueller Lust durch seelische oder körperliche Krankheiten.
Der asexuelle Aktivist David Jay gründete 2001 das amerikanische Netzwerk AVEN (Asexual Visibility and Education Network). In dem deutschen Pendant stieß Martin E. zwölf Jahre später zum ersten Mal auf den Begriff Asexualität. „Das beschreibt viel von dem, was ich fühle”, dachte er damals. Nur, dass er mit seiner Frau auf natürlichem Weg Kinder gezeugt hatte, schien nicht zu passen. Martin E. war verunsichert. Im Forum hielten einige Kinderwunsch und Asexualität für unvereinbar. „Deshalb habe ich das wieder zur Seite geschoben, aber sowas lässt einen ja dann nicht los“, erzählt er im Video-Interview. Sex sei für ihn eine Körperfunktion, aber er brauche ihn nicht. „Ich könnte dabei eine Doku gucken oder Rechenaufgaben lösen”, sagt er nüchtern und zuckt in seinem blau-grün-karierten Hemd leicht mit den Schultern. Erst durch eine Broschüre des Vereins AktivistA, die die Frage „Bin ich asexuell?“ ausführlich beantwortet und auf das Spektrum eingeht, wurde ihm 2019 endgültig klar: „Ich bin asexuell.” Endlich hatte er einen Namen für das, was er spürt – eine Befreiung. Damit andere nicht auch so lange auf diese Erkenntnis warten müssen, engagiert er sich inzwischen bei AktivistA.
Asexualität muss sichtbarer werden
Seit acht Jahren setzt sich der Verein dafür ein, das asexuelle Spektrum sichtbar zu machen. „Trotzdem sind wir vielen noch unbekannt, selbst Asexuellen”, sagt Sprecherin Irina Brüning. Deshalb halten sie Vorträge an Universitäten und informieren an Ständen bei Christopher Street Days. Aktuell zählt AktivistA 27 Mitglieder – zu wenig, um in allen Bundesländern präsent zu sein. „Manchmal muss ich deshalb Anfragen für Vorträge ablehnen”, sagt Brüning. Sie engagiert sich ehrenamtlich, weil ihr klar ist, „was Unwissen alles anrichten kann.“
Andrea K. weiß das auch. Sie ist 51 Jahre alt. Erst mit 45 wusste sie, was mit ihr los ist. In Partnerschaften und acht Jahren Ehe hatte sie immer wieder Sex – Lust aber nie. „Ich dachte ja immer, es muss ganz toll sein, wenn das alle sagen.” Also hat sie so getan, als ob es ihr gefällt. „Welcher Mann merkt schon, wenn man ihm einen Orgasmus vorspielt?”
Nach körperlicher Nähe wie Kuscheln und Küssen sehnt sich Andrea K. durchaus – nur nicht nach Sex. Anfangs war dieser für sie noch neutral. Im Laufe der Ehe assoziierte sie jede Berührung ihres Mannes mit einer Forderung nach Sex – die Ablehnung wuchs. „Ich konnte ihm das nicht erklären und er fühlte sich als Person abgelehnt.” Andrea K. stellte sich selbst infrage. Auch Therapeut*innen konnten ihr vor 20 Jahren noch nicht helfen. Die Ehe zerbrach daran.
Die Herausforderung Partnerschaft
Partnerschaften seien auf jeden Fall möglich, sagt Sexualtherapeut Jörg Signerski-Krieger. An der Universitätsklinik Göttingen sucht er seit sechs Jahren mit Paaren nach Lösungen. So könne man mit der Hand befriedigen oder die Beziehung öffnen, damit auch die Partner*innen, die Sex haben wollen, ihre Sexualität ausleben können.
„Sie zwingen sich selber in Grenzverletzungen hinein“
Jörg Signerski-Krieger, Sexualtherapeut
Signerski-Krieger wünscht sich, dass Sexualität generell als etwas Individuelles akzeptiert wird. Der gesellschaftliche Druck beim Thema Sex sei zu groß. „In Zeitungen und anderen Medien wird vermittelt, dass Sexualität etwas ist, was wir alle haben müssen, was Spaß macht, was toll ist und super geil – und immer weiter, höher und mehr”, sagt er. Dieser Druck von Außen und der, den sich Asexuelle deshalb selbst machen, könne das Selbstwertgefühl angreifen. „Sie zwingen sich selber in Grenzverletzungen hinein” – nur, weil noch immer nicht akzeptiert wird, dass Sex nicht für alle der Höhepunkt ist.
Heute weiß Andrea K., wo ihre Grenzen liegen. „Für mich ist der Höhepunkt nicht Sex, sondern eine sehr innige, vertraute Beziehung, respektvoller Umgang miteinander”, sagt sie. „Eine Seelenverwandtschaft.” Asexualität bedeutet noch lange nicht Aromantik.
Ob eine Beziehung gelingen kann, hängt auch vom Gegenüber ab. Wenn Andrea K. Männern beim ersten Treffen erklärt, dass sie kein Interesse an Sex hat, dann nicken diese verständnisvoll. „Aber das war dann meistens auch das letzte Treffen”, sagt sie. Auch für Martins Frau war es nicht einfach, als er ihr vor einem Jahr erzählte, dass er asexuell ist. „Sie hat verstanden, dass ich sie noch nie im klassischen Sinne begehrt habe.” Martin E. hatte das Glück, eine Frau zu finden, der Sex noch nie so wichtig war und die seine Asexualität akzeptiert. So konnten sie einen Weg finden. „Mit Liebe und Kommunikation.”